Notizen über die allgemeine Verunsicherung
Hamburg, Große Freiheit 36

Club 'Große Freiheit 36', Hamburger Reeperbahn

Auf der Nepperbahn steht das Volk wie 'ne eins

Bis ans Ende der Welt und noch viel weiter — nichts ist mir zu wenig für meine Lieblingsband. Wo auch immer dieses Ende der Welt ist, Fehring (Steiermark) dürfte dort jedenfalls namentlich bekannt sein. Die Chronisten-Pflicht war es, die mich zum Wer-Dienst rief. Dass ich die Premiere der „Werwolf-Tour“ in Fehring (06.02.2015) gesehen habe, habe ich jedenfalls nicht bereut, wie man in Podcast-Folge #35 hören kann. Eine Woche später (13.02.2015) folgte die Kür am anderen Ende der Welt: Hamburg, Große Freiheit 36.

Ich war etwas angeknabbert von einem grippalen Infekt. Aber dank eines Adrenalin-Cocktails, den mir mein ruinierter Körper dankbarerweise mixte, waren wichtige Eigenschaften eines Homo Sapiens (aufrechter Gang und Sprachfähigkeit) bei mir wieder hergestellt. Die paar Stunden Zugfahrt bis ans andere Ende der einem Durchschnittsbayern bekannten Zivilisation sind auch noch zu schaffen. Dass als erstes in Hamburg ein Treffen mit anderen EAV-Jüngern bei einer großen amerikanischen Hähnchenbraterei anstand, kam mir gut zu pass. So ein bisschen Antibiotika-Hendl gegen meine Erkältung würde mir sicher gut tun. Es war das erste Mal, dass ich diese Cowboy-Plastikhenderl probierte. Nach ein paar Bissen tat sich vor meinem geistigen Auge eine Hendlfertigungsstraße auf, die selbst den Film „Brust oder Keule“ in den Schatten stellte. An der Decke sah ich ein unüberblickbares Rohrgeflecht in allen Farben, alle unterschiedlich farbige zähflüssige Massen ausspuckend: beispielsweise ein gelbes Rohr mit der Aufschrift „Sägespäne“, ein schwarzes Rohr mit der Aufschrift „gummi arabicum“ und ein weißes Rohr mit Aufschrift „Alpina schneeweiß“. Die Flüssigkeiten wurden vermengt, in Formen gegossen und am Ende der Fertigungsstraße war es fertig: das Analog-Hendl.

Wer weiß, vielleicht war es der Virus in mir, der mir solche Phantasien bescherte. Aber kaum auszudenken, welche Phantasien sich bei meiner charmanten Reisebegleitung, die der eigentliche Grund dafür ist, dass ich wichtige Eigenschaften eines Homo Sapiens an mir aufrechthalte, entsponnen, als wir EAV-Jünger zu fachsimpeln begannen. Wer welche Platte in der Sammlung habe, was wie selten ist und für wie viele tausend Euro er bereit sei, die Ostberlin-Single-CD zu verkaufen. Das Essen wiederum war das Geld nicht wert. No-Carb und Low-Fat schön und gut, aber diese Plastikhendl waren No-Taste und vermochten meinem Magen kein Signal zu geben, dass er etwas intus habe. Trotzdem musste es ja weitergehen, also trotteten wir zum Club „Große Freiheit 36“ auf der Hamburger Reeperbahn.

Es wartete bereits eine lange Schlange vor dem Club auf uns. Das Publikum war bunt gemischt, größtenteils wohl aus der Generation Ü30, und füllte den großen Raum inklusive des Obergeschosses vollständig (ausverkauft). Die Songs, die auf der Tour vor dem Konzert gespielt werden (u.a. „Die Intellektuellen“, „Hereinspaziert“, „Woodstock“, „Es wird Heller“), konnte man kaum hören, so geschäftig war die Stimmung bereits im Vorfeld. Beim Konzert selbst war die Stimmung hervorragend. Das Publikum war kundig und kannte viele der neuen Songs bereits auswändig.

Schild 'Große Freiheit 36'

Es ist wie es ist: Wenn das Publikum steht und die Band standesgemäß rockt, entsteht automatisch eine bessere Schwingung, in der sich Band und Publikum gegenseitig hochjazzen. Thomas Spitzer betonte mir gegenüber nach dem Konzert, dass ihm das Spielen vor dem Hamburger Publikum wieder einmal ganz besonders viel Spaß gemacht habe. Und er bekräftigte, dass er am liebsten nur Stehkonzerte spielen möchte, weil Publikum und Band viel näher beieinander sind und sensibel aufeinander reagieren können. Er freue sich schon auf das Stehkonzert in Pratteln (Schweiz), wo ebenfalls traditionell das Schweizer Temperament die Massen beben lässt.

Dass Klaus Eberhartinger eher ein Verfechter der Sitzkonzerte ist (wie er selbst stets betont in Interviews), weil das Publikum dann besser zuhören könne, wundert einen, wenn man gesehen hat, wie er in Hamburg direkt auf die Publikumsreaktionen reagierte. Sein ganzer Körper war in Spannung und saugte genüsslich jede Stimmung auf. Das Konzertvolk hing an seinen Lippen und er genoss es sichtlich. Und das, obwohl er sich die Aufmerksamkeit beim Publikum mit der riesigen LED-Wand teilen muss. Geradezu symbolisch tritt Klaus Eberhartinger zur Seite an den Rand der Bühne, wenn einer der schönen Comics zu den Songs gezeigt wird. Mehr Interaktion mit der LED-Wand wäre wünschenswert, wie es beispielsweise bei „Maschine“ passiert (Klaus Eberhartinger steht in der Mitte und ist als Schatten teil der Szenerie).

Die Moderationen wurden im Vergleich zur Premiere gestrafft, was dem Fluss des Programms gut tat. Klaus Eberhartinger kam schnell auf den Punkt und verlor auch den roten Faden (Monster und Werwölfe) nicht aus den Augen. Von Youtuberkulose bis hin zu Fregida — es machte Spaß, seinen kabarettistischen Moderationen zuzuhören.

Auch die Band amüsierte sich und ließ sich von der Begeisterung treiben. Vor allem Bass-King Alvis Reid setzte so einige Groove-Akzente und forderte immer wieder Thomas Spitzer zum gemeinsamen rocken auf. Die beiden scheinen sich bestens zu verstehen. Herr Kapellmeister Kurt Keinrath, welcher sich bei der Premiere auffallend unauffällig gab, setzte sich ebenso mehr in Szene. Vollblut-Drummer-Nerd Aaron Thier ließ seine mit seinem Namen beschrifteten Drumsticks erst so richtig beim noch längeren Schlagzeug-Solo zur Bandvorstellung fliegen.

Die Russen kommen / Babuschka

Das Programm erfuhr im Vergleich zur Premiere ein paar Detailänderungen: Vier neue Zeichnungen gab es zu sehen, drei davon bei „Dame Europa“. Der Gag mit dem Burger-King-Kong (es lief ein Affe in einem riesigen Schaumstoff-Burger über die Bühne) ist laut Thomas Spitzer vom Publikum meist in der Eile nicht verstanden worden, deshalb sieht man jetzt den Burger-King-Kong als Zeichnung mit Beschriftung auf der LED-Wand. Auch Frau Merkel ist in einer Karrikatur zu sehen. Wie mir Thomas Spitzer erzählte, hatte die EAV die von Nino Holm vorbereiteten Homer-Simpson-Masken vergessen. Sie waren aber auf dem postalischen Weg zum nächsten Konzerttermin unterwegs. Ab dem Landshuter Konzert war dann Homer Simpson im Burger anstatt eines Affen zu sehen.

Die größte Überraschung und zugleich Erleichterung: Klaus Eberhartinger deckt sich als Sandlerkönig Eberhard wieder mit dem „SPIEGEL“ zu und nicht mit der „BILD“-Zeitung, wie er es bei der Premiere getan hatte. Ein Akademiker und Sandler mit Stil wie der Eberhard würde sich niemals mit der „BILD“-Zeitung zudecken. Neu ist auch, dass nach der letzten Zugabe („Morgen“) auf der LED-Wand ein Abspann mit persönlichen Fotos von den Proben, einigen Zeichnungen und einer Liste aller Beteiligten gezeigt wird. Auch verUNsicherung.de wird genannt. Herzlichen Dank!

Nach dem Konzert durften wir noch Thomas Spitzer in seiner Garderobe besuchen. Wie es sich für einen Popstar gehört, hatte er eine Einzelzelle. Eine vollständig verspiegelte Wand, drei abgesessene Sofas und ein fast leerer Kühlschrank versprühten den Charme einer Studentenbude. Rock'n'Roll! Einzig ein Aschenbecher fehlte, stattdessen musste die Schachtel eines Macbook-Netzteils von Apple herhalten. Damit wäre für die Produkte der religiösen Apple-Sekte endlich eine sinnvollen Verwendung gefunden, meinte Thomas Spitzer dazu und aschte auf das aufgemalte sakrale Netzteil. Leicht angeschlagen von einer Erkältung, die die ganze Band befallen hatte, und mit belegter Stimme empfing er uns in seinen Gemächern herzlich und bot uns Getränke an. Die Fritz Cola konnte der gestandene Rockmusiker einem akademischen Weichei wie mir problemlos mit einem Feuerzeug öffnen. Rock'n'Roll wohin man schaut. Nur dass er den Zoo besuchte, konnten die jüngeren Rock'n'Roll-Frischlinge in der EAV-Crew kaum fassen. Dabei ist nichts inspirierender für einen kreativen Menschen, insbesondere Zeichner, als eine große Ansammlung von exotischen Tieren.

Auf den tollen Charteinstieg in Deutschland (1. Woche Platz 15, 2. Woche Platz 38) angesprochen, zeigte er sich stolz, dass es belohnt wurde, dass er kompromisslos seinen Weg bei diesem Album ging. Es sei ihm eine innere Befriedigung. Auch dass dieses Album von den Feuilletons der besten deutschsprachigen Zeitungen so positiv besprochen wurde, sei ihm mehr wert als so mancher Massenerfolg. Im Zweifel gehe eben Qualität vor Quantität. Letztendlich sehne er sich nach Anerkennung für sein Lebenswerk. Ein außergewöhnlich tolles Zeichen für die Anerkennung durch das Publikum ist, dass ungewöhnlich viele Tonträger des neuen Albums am Merchandising-Stand verkauft werden. Die Menschen hören im Konzert die neue Musik und sind so begeistert, dass sie sich gleich die CD kaufen.

Zum Abschluss gab Thomas Spitzer noch meiner charmanten Reisebegleitung auf den Weg, dass sie auf mich, den „intellektuellen Schrat“, gut aufpassen solle. Gut gebrüllt, alter Zigeuner, denn der grippale Infekt in mir hielt sich zwar noch zurück, aber klopfte sichtlich an. Es wurde auch nicht besser, als wir in der Kneipe gegenüber, die sich selbst ehemalige Stammkneipe der Beatles nennt, noch ein Abschlussbierchen kippten. Ob der DJ auch zu den Hamburger Zeiten der Beatles so stilsicher abseits des guten Geschmacks gegriffen hat, ist nicht überliefert. Durch das Alsterwasser wurde die Auswahl zwischen Helene Fischer und „Viva Colonia“ jedenfalls auch nicht besser.

Am nächsten Tag musste meine charmante Reisebegleitung leider allein auf die touristische Pirsch durch Hamburg. Denn an aufrechten Gang und Sprachfähigkeit war bei dem intellektuellen Schrat nicht mehr zu denken. Da half auch selbst das Antibiotika-Hendl nichts mehr. Mahlzeit!

Autor: Alexander Mayer

Letzte Änderung: 21.02.2015