Notizen über die allgemeine Verunsicherung

2022 war jetzt vorbei

Jeder kennt das: Da gibt es diese angesagte Clique, die ihre Freundschaft wie einen Orden verleiht und die Freundschaftsempfänger sorgfältig nach Lust und Nase aussucht. In den innersten Zirkel kommt man nur rein, wenn man nützlich ist, wenn man der einzige mit eigenem Auto ist, wenn die Eltern einen großen Partykeller haben oder wenn man hübsch ist. Dann wird davon gesprochen, man sei eine gute Ergänzung der Clique. Die Don Corleones dieser Welt, die Freundschaft als Druckmittel nutzen, treiben diese Freundschafts-Perversion auf die Spitze, ganz im Sinne des heren Gesetzes, dass man sich seine Freunde stets nah halten solle, aber die Feinde noch näher. Wenn Du nun als aufgeklärter Mensch dieses Spiel bewusst mitspielst und Du akzeptierst, dass die Clique halt aus lauter egoistischen Arschlöchern besteht, aber sie dafür die besten Parties mit den tollsten Frauen schmeißen, kannst Du Dir zwar kantsche Moralabwägungen in Deinem Kopf durchspielen, aber das immerhin mit einem Caipirinha in der Hand bei Heavy-Rotation-Dudelmusik. Wenn Du aber das je nach Lesart oberflächliche oder falsche Spiel nicht realisierst, dann wird die Enttäuschung groß sein, wenn die Clique ihre wahre Motivation offenbart. So muss sich der kollektive deutsche Michel gefühlt haben, als Russland die Ukraine im Februar 2022 erneut angriff und so altertümlich, vermeintlich aus der Zeit gefallen, imperialistisch handelte, wie man es eigentlich in Europa glaubte, überwunden zu haben. Putin lud die europäischen Länder, allen voran Deutschland, in seine Clique ein, weil es nützlich für ihn war. Und Europa dachte, durch diese Nähe zu Putin etwas zum positiven in seinem Land verändern zu können, die Demokratie als Rendite für reichlich Geld für fossile Brennstoffe. Willkommen im Jahrzehnt der Naivität! Ja, es war naiv, nicht zu erkennen, dass Russland wie eine Mafia-Organisation geführt wird und Freundschaft als Waffe nutzt. Der Moment der Erkenntnis brachte allerdings auch einen unerreicht klaren kollektiven Aha-Moment, der diese komplexe Welt in einer Millisekunde plötzlich so einfach und verständlich machte: Putin ist der Böse, wir gegen ihn, schwarz und weiß. Dieses Zwei-Null-Zweier-Jahrzehnt ist auch das Jahrzehnt der Sehnsucht nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Denn das Leben wird immer komplexer, kompliziert genug ist es ja eh schon. So schwierig es ist, Lösungen für komplexe Probleme zu finden, sollten zumindest lösbare Probleme nachvollziehbar gemeistert werden. Das Credo der Politik sollte schließlich sein, einfache Lösungen auf komplizierte Probleme zu finden. Das Gegenteil ist aber meist der Fall, denn hunderte Seiten Gesetzestext, aufwändige Behördeninteraktionen und eine kaum verständliche Lösung umgibt den Hauch von Genialität für die Sachbearbeiter und gute Argumente für eine Beförderung, aber keine Akzeptanz bei den Bürgern. Da ist es ein zynischer Glücksfall, wenn plötzlich einfache Antworten gegeben werden können. Nun fragt sich der geneigte Leser, warum er in diesem Jahresrückblick noch keinen ironischen Gag vernommen hat oder einen schrägen Link? Warum muss er sich Abhandlungen von Freundschaft, Naivität und Komplexität anhören anstatt über Boris Beckers Entlassung aus überfüllten Gefängnissen im Brexit-England zu lachen? Nein, dieser Jahresrückblick wird keine kleinen Geschichten erzählen. Wir leben nicht nur im Jahrzehnt der Naivität, sondern auch dem Jahrzehnt der Aufregung. Alles ist schneller, hektischer, reaktiver als ein Kolibri auf RedBull. In einer Zeit, in der jeder eine kurze Lunte hat, in der Beziehungen per WhatsApp beendet werden, weil der Toilettendeckel nicht runtergeklappt wurde oder zuwenig Likes auf die eigenen Instagram-Posts vergeben wurden, muss man antizyklisch agieren. Nicht das Klein-klein-Futter für Shitstorms muss man betrachten, sondern das große Ganze. Doch das große Ganze ist eben nicht so einfach zu verstehen, wie eine kleine Episode oder ein aus dem Zusammenhang gerissener Satz, den man in einem ironischen Tweet kommentieren kann. Für komplexe Fragen gibt es eben keine einfachen Lösungen. Deshalb ist das Jahrzehnt der Naivität idealer Nährboden für Verschwörungstheorien: sie picken sich kleine Zitate oder Geschichten heraus und machen daraus ein in sich stimmiges und einfach verständliches Weltbild. Und noch fruchtbarer blühten die Verschwörungstheorien durch das pandemische Virus, das eine unheilvolle Allianz mit der Esoterik, dem Hort der Wissenschaftsleugnung und Platzhalter für noch nicht wissenschaftlich Erforschtes, entstehen ließ. Zum Schrecken des aufgeklärten Teils der Gesellschaft fühlten sich plötzlich so einige Aluhüte und Engelsdeuter am rechten Rand des politischen Spektrums zu Hause. Und wie kommen wir aus dieser Misere wieder raus? Hören wir einfach auf, das Kleine so riesig groß zu machen! Der verbrecherische Angriffskrieg hat die Skala der Aufregung wieder gerade gerückt. Menschen sind zwar soziale Wesen, aber eben auch Individuen, die im Zweifel auch egoistisch agieren. Freundschaft als selbstlose und bedingungslose Bindung ist eine Utopie. Entspannen wir uns und hängen die Erwartungen an die Mitmenschen nicht zu hoch. Wenn ein Land ein anderes Land brutal angreift, ist das ein massiver Bruch mit der Menschlichkeit, der eine freundschaftliche Beziehung mit dem Agressor grundlegend in Frage stellt. Wenn aber der Ehemann oder die Ehefrau den Hochzeitstag vergessen hat, ist das nicht gleich der Beweis für die erloschene Liebe, sondern vielleicht ein eindringlicher Merker dafür, dass man Smartphone-Kalendern nicht uneingeschränkt vertrauen sollte. Wenn ein Politiker bei Drölfunddreißigtausend gesagten Sätzen am Tag einen Satz sagt, der ziemlich dämlich ist, dann ist es ein dämlicher Satz, aber nicht das Ende seiner Karriere, nur weil sich die Kommentatoren in ihren hohen moralischen Erwartungen enttäuscht sehen. Und wenn ein Autor einen Jahresrückblick ohne Gags und Links und mit nur einem einzigen Absatz macht, dann ist das nicht langweilig, sondern einfach ein sehr großer Absatz. Prosit, Neujahr!

Autor: Alexander Mayer

Letzte Änderung: 01.01.2023