Notizen über die allgemeine Verunsicherung

2019 war jetzt vorbei

Ein Innenminister, der von dem Präsidenten der USA, einem Wrestler und Pornostar, in das Amt gehoben wurde, weil er der schlauste Mensch der Welt ist, entdeckt den Grund für die schlechte Ernte: die Menschen giessen ihre Felder mit einem Energy-Drink! Auch ansonsten vertreiben sie sich nur ihre Zeit mit der erfolgreichsten TV-Serie des Landes „Aua, meine Eier“, in der sich ein Mann alle paar Minuten seine Testikel prellt, und mit dem erfolgreichsten Film des Jahres „Arsch“, in dem 90 Minuten ein Männer-Hintern gezeigt wird. Der Drehbuch-Oscar war keine Frage verdient. Klingt erfunden? Richtig — der Innenminister als schlauster Mensch der Welt ist sehr unrealistisch. Was im Film „Idiocracy“ als bittere Dystopie von einer Menschheit, die immer dümmer wird, geschildert wird, scheint gar nicht mehr so entfernt in der Zukunft zu sein. Dass da unser Innen- und Verfassungsminister Seehofer in einem Anflug von ironisch-verdeckter Ehrlichkeit zugab, unpopuläre und verfassungsfeindliche Gesetze absichtlich kompliziert zu machen, damit sie nicht so auffallen ist da noch die erfrischende Variante eines Trends, der weltweit nicht aufzuhalten zu sein scheint: Die Trolle übernehmen die Weltherrschaft und die Moralisten zerstören sich selbst. Nicht denken, sondern sagen, heute hier, morgen dort. Es ist egal, was ein Regierungstroll wie Trump oder Johnson sagt oder denkt. Er sagt viel mehr als er denkt. Und er tut noch viel weniger als er sagt. Und was er heute sagt, hat er morgen vergessen und behauptet das Gegenteil. Hauptsache, die Ehrlichen, die Realisten und Moralisten reagieren darauf. Ein Regierungsstil wie ein YouTube-Channel: Hauptsache Provokation, Hauptsache Klicks und Hauptsache viele Reaction-Videos von anderen YouTubern, die sich an der Dummheit ergötzen, letztendlich aber nur vom Fame etwas abhaben möchten. Oder um es mit Tony Montana aus „Scarface“ zu sagen: „Sie sagen immer die Wahrheit, sogar wenn sie lügen“. Und während die Gegner noch die vorletzte Lüge aufdecken wollen, interessiert es niemanden mehr, weil schon die nächste kommt. Es würde nicht wundern, wenn der frisch gewählte Boris Johnson in Kürze Prank-Videos aus den Brexit-Verhandlungen veröffentlichen würde. Ein „Hihi! Wir bleiben doch in der EU!“-Prank-Video mit Angela Merkel würde die Klickzahlen von Bibis „Ich bin schwanger“-Prank-Video locker übertrumpfen und sogar das in den Schatten stellen, in dem er Merkel ein Pfurzkissen auf den Stuhl legte. Auch in Deutschland zerstäuben die Fakten in der Debattenkultur wie die Wahlergebnisse der SPD. Die AfD zermürbt die Öffentlichkeit mit Tabubrüchen, die stets folgenlos bleiben und bestenfalls mit haarsträubenden Ausreden runtergespielt werden. Die Grenze dessen, was man doch wirklich mal sagen darf, wird immer mehr ausgedehnt. Die Sprache wird rechts-affin, rechte Argumente werden normal. Der unvergessene Roger Willemsen meinte im Jahre 2006 schon: „Hitler hat einmal in einem merkwürdig klarsichtigen Satz [...] gesagt: 'Ich habe die Demokratie mit ihren eigenen Regeln zur Strecke gebracht.' Von dieser Einsicht aus lohnt es sich, in allen Staaten [...] auf die Stellen zu schauen, an denen sie sozusagen umkippen können.“ Die Sachsen- und die Brandenburg-Wahl hat gezeigt, dass die braune Soße von allen Seiten kommt. Und während gemäßigte Politiker wie Jörg Meuthen das rechts-konservative Feigenblatt bilden, holen beflügelt von ganz weit rechts Landolf Ladig und Bernd Höcke die Stimmen für die AfD. Es sind Stimmen von denen, für die sich die CDU/CSU gemäß des alten Strauß-Dogmas („Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“) traditionell rechts öffnete, um die aber heute unter Merkel nicht mehr gebuhlt wird, weil sich die CDU nach links öffnete. Es sind aber auch Stimmen von denen, die sich abgehangen fühlen von der Gesellschaft, die trotz Quasi-Vollbeschäftigung nicht genug verdienen, um ein gutes Leben zu führen. Und schließlich haben die ca. 10% Idioten, die jedes Land durchschnittlich laut einer aktuellen Studie des verUNsicherung.de-Instituts für Dummheits-Schmerzforschung besitzt, endlich eine Heimat gefunden. Während man bei der guten alten Tante SPD schon von allen Ämtern zurücktritt, wenn man mal seine Meinung ändert oder weil man im Kugelhagel von friendly fire ist, singt ganz Deutschland das Lied „Lebt denn der alte Scheuer Andi noch?“. Andreas Scheuer ist Opfer des altmodischen Troll-Verhaltens der CSU: Einfach irgendwas versprechen, was gegen Ausländer ist und am Stammtisch im Röhrenden Hirsch von Wolfratshausen Begeisterungs-Bellen verursacht, aber niemanden weh tut, nicht einmal der dienstältesten Bedienung Agata von der kroatischen Insel Krk, die schon seit 30 Jahren in Bayern ist, und die man natürlich nicht meint, wenn man keine Ausländer haben will im Wirtshaus neben der Kirche. Altmodisch, ja, weil die CSU zwar genauso wie die AfD mit Wahlversprechen Resentiments schürte, aber — schön dumm — diese dann nach dem Wahlerfolg auch noch umsetzen will. Der Erbe von Mastermind Alexander Dobrindts Wahllüge tat alles, um die Umsetzung der verfassungsfeindlichen Idee so schnell und gesegnet mit bemerkenswertem Realitätsverlust umzusetzen, dass zum Schluss alle vergessen haben, wie sie betrogen wurden. Was sind da schon knapp eine Milliarde Steuergelder, die man verscheuert, gegen den Wahlsieg der Staatspartei? Aber der Scheuer Andi, der hatte doch nur Pech, dass er das unerfüllbare Wahlversprechen umsetzen musste! Bei der Diskussion um CO2 und Feinstaub hingegen hat er sich ganz höchstpersönlich selbst blamiert. Auch hier gilt: Wichtig ist nur, etwas zu behaupten. Und wenn ein Rentner-Lungenarzt mit 112 Kollegen höchstselbst und ohne Sekretärin (!) so voll mathematische Zahlen addiert und substrahiert und sogar mal was teilt (ja gut, bei der einen oder anderen Kommastelle kann man sich schon mal irren!), dann springt Volkszorn-Andi auf und tut mal sagen, was alle SUV-Fahrer und „Freie Fahrt für freie Bürger“-Demokraten schon immer wussten, nämlich dass dieses Feinstaub-Dingens eine böse Erfindung der links-grün-versifften Gesellschaft sei! Es ist nichts mehr so, wie es mal war: Die Grünen sind die neuen Konservativen, die CSU die neuen Grünen, die CDU die neue SPD, die AfD die neue CDU, Mario Barth der Vater des neuen Investigativ-Journalismus und Florian Silbereisen der neue Traumschiff-Kapitän. Nur die SPD, ja, die SPD ist eben so wie sie ist, nämlich irgendwo aufgerieben zwischen Schröders „neuer Mitte“ und der guten alten Arbeiterpartei für Arbeiter, die es nicht mehr gibt. Und dabei aber geradezu selbstzerstörerisch verantwortungsvoll in einer Politikwelt voller Lügen und Effekthascherei. Tu felix Austria! Denn dort ist die Welt noch in Ordnung. Dort sind die Rechten noch schlichtweg zu blöd beim Aufbau der Diktatur und lassen sich erwischen. A b'soffene G'schicht. Da kann man nur hoffen, dass die AfD in Deutschland weiterhin ihren österreichischen Flakhelfern nacheifert und sich schneller und effektiver selbst zerlegt als die SPD. Unklar ist noch, ob die AfD genauso wie die FPÖ glaubt, was sie sagt. Denn tatsächlich soll sich die FPÖ für den herbeigesehnten europäischen Bürgerkrieg gerüstet und in Osttirol in der Pension Enzian Goldbarren für die Zeit nach der Apokalypse gebunkert haben. Politik wie aus einem James Bond Film. Da passt die nüchterne Physikerin aus der Uckermark einfach nicht mehr rein. Da schreiben die Medien ihre Empörungs-Kommentare über die sich selbst zerfleischende Große Koalititon und schwadronieren etwas von „Sachpolitik“, während Merkel und die Regierung ihre Klein-Klein-Arbeit tun und bereits jetzt die Hälfte aller Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt haben. Ganz klarer Fall von überqualifiziert in der Welt der Clowns — aber eine Vision für die Zukunft, ein Modell für die Gesellschaft von morgen, die fehlt. Vielleicht ist das der geheime Schlüssel, um die feindliche Übernahme der Trolle zu stoppen: Trocken und langweilig Argumente und Fakten auftischen, gute Arbeit liefern und für Ideen und Visionen ein paar Politik-Rockstars züchten. Eine Regierung, die wie Stricken zu Heavy-Metal-Musik ist, das wär's. Alle Hoffnungen ruhen auf der Jugend, die plötzlich vegan wird, auf die Straße geht für das Klima und so politisch denkt, wie schon lange nicht mehr. Das beste, was man als mittelalter Mensch für die Menschheit getan hat, ist somit, junge Weltverbesserer auf die Welt gesetzt zu haben. Doch halt, andere bezeichnen den Verzicht auf Kinder als beste Klimawandel-Bremse. Ein Dilemma! Wir sollen nicht so egoistisch sein und für unsere Kinder den von Menschen gemachten Klimawandel stoppen, doch wenn wir dafür dann keine Kinder machen dürfen, dann brauchen wir es ja auch gar nicht tun? Nicht alles, was Sinn hat, macht Sinn. Aber bevor wir dann im Seniorenstift „Altersruh“ dem Spiel der Flötengruppe „Thunberg“ lauschen, können wir ja noch ein paar weitere akute Probleme lösen. Im Ruhestand werden wir jedenfalls mit einem Augenzwinkern auf die Nullerjahre im Klo-Jahrzehnt zurückschauen. Damals, als sich die alten Menschen Hofnarren als Politiker gönnten und währenddessen die Jugend eine neue Gesellschaft aufbaute, die alles verstand und den Wechsel einleitete. Die erfolgreichste TV-Serie des Landes wird dann das Fantasy-Epos „Game of Clowns“ sein, in der die Herrscher aller Länder gegenseitig Krieg mit YouTube-Reaction-Videos führen und der erfolgreichste Film des Jahres wird ein Zombie-Film sein, der von dem Aufbau einer Kolonie auf dem Mars handelt, auf der dann lebend-tote, aber freie Bürger und SUV-Fahrer mit ihren Clean-Diesel-Maschinen Autorennen veranstalten. Prosit, Neujahr!

Autor: Alexander Mayer

Letzte Änderung: 31.12.2019