Notizen über die allgemeine Verunsicherung

2011 war jetzt vorbei

Positiv denken! So schlimm ist es doch gar nicht. Bei uns wird noch kein Einarmiger für's Klatschen inhaftiert, eine wahrhaft buddhistisch anmutende Aktion der weißrussischen Diktatur, die nun auch den transzentalen internationalen Raum des Internets für die Bürger gesperrt hat. Sperren! Diese Amateure! Freiheit ist Opium für's Volk und schafft unbegrenzte Möglichkeiten zum Abhören, Bespitzeln und Datensammeln. Das bedeutet mehr Fundstücke für den Staatstrojaner, benannt nach einem Staat, der einer List der Griechen zum Opfer gefallen ist. Spricht man bald vom Europäer statt vom Trojaner? Das LKA Sachsen hat's jedenfalls kapiert und scannt regelmäßig hundertausende Mobilfunk-Verbindungsdaten von Demonstranten auf Anti-Nazi-Veranstaltungen und jede Menge nicht beteiligter Anwohner als Kollateralschaden der über die Stränge geschlagenen Behördensorgfalt. Die Gegner des Nationalsozialismus unter Generalverdacht als Feinde der Demokratie? Das müssen alles Terrorverdächtige sein, auch die Anwohner! Schließlich würden „ausschließlich Terrorverdächtige“ ins Visier der Nachrichtendienste kommen, entgegnet der Minister für Innere Überwachung der Kritik der „linksliberalen Fundamentalisten“. Vielleicht traut sich ja mal ein Politiker von demokratischen Fundamentalisten zu sprechen, wenn das Verfassungsgericht die beschämend minderwertig geschriebene Verschlimmbesserung des Wahlrechts kippt. Diese lästige Demokratie. Auch der Linksterrorismus ist ein Wort, das wie ein Donnerhall mit Paukenschlägen untermalt von jedem noch so unwichtigen Hinterbänkler der CDU/CSU ausgesprochen wird. Rechtsterrorismus? Nie gehört, gibt's nicht, bedauerliche Einzelfälle von verrückten Einzelkämpfern. Rechts von der CSU muss der Abgrund sein, rief Franz-Josef Strauß als Parole aus. Dafür kämpft Seehofer bis zur letzten Patrone. Würden Politiker S-Bahn und U-Bahn fahren und ganze Schulklassen rechtsradikale Dreckslieder unbehelligt laut abspielen hören, würden sie anders denken. Würden Bundespolitiker in der Kommunalpolitik arbeiten, würden sie sich jedes Jahr mit Rechtsradikalen rumschlagen müssen, die friedliche Jugendveranstaltungen gegen Rassismus infiltrieren und stören. Und während die Frauen-an-den-Herd-Ministerin Schröder Organisationen, die sich dem Kampf gegen Rassismus verschrieben haben, das Leben so schwer wie möglich macht und während die Polizei die Familienangehörigen der Opfer der (abfällig, geradezu zynisch genannten) „Dönermorde“ als Täter verdächtigen und dem Heilbronner Phantom nachjagen, wird in Zwickau in aller Ruhe der nächste Mord geplant. Die linksextremistischen Terroristen, das sind so Leute, die so ganz komplizierte Sätze mit vielen fremdsprachigen Wörten in ihren Bekennerschreiben schreiben tun, das macht Angst. Doch die Rechtsextremen, das sind einfach Spinner, spinnt man sich beim Verfassungsschutz zusammen. Grüße auch nach Ungarn, da wächst die nächste Diktatur an der Speerspitze des von der Bush-Regierung so hoch gelobten neuen Europa nach! Meckern, meckern, meckern. Man muss auch mal loben! Gaddafi hat's kapiert und sprach großes Lob für Deutschland aus. Ach, der Diktator mit dem goldenen Colt, der doch so nützlich für die EU war und die afrikanischen Flüchtlinge von den Toren Europas fernhielt! Bis zur letzten Patrone, Herr Seehofer. Trotzdem half auch der Regenschirm nichts mehr, weg ist er und mit ihm einige andere arabische Despoten, gestürzt von mutigen Bürgern. 2011, das Jahr im Zeichen des Schirms. Die Kleinen fängt der Schirm auf und schützt sie, die Großen werden vom steifen Wind des Marktes weggeblasen, solange sie an ihm festhalten. Der kleine Maulwurf erklärt uns die Euro-Krise. Und das mit dem Hebel geht so: Man nehme einen großen Haufen Geld und lege ihn auf eine Seite der Schaukel. Dann nehme man alle Regierungschefs der EU und lasse sie gemeinsam auf die andere Seite der Schaukel springen. Und schon fliegt das Geld in hohem Bogen weg. Auf nimmer Wiederzahlen. Trotzdem ist Hilfe für unsere Nachbarn angebracht, keine Frage. Aber man könnte ja mal das scharfe Schwert der Moral schwingen. EU-Kommisar Oettinger empfahl, die Flaggen von Schuldensündern auf Halbmast zu setzen. Ein Flaggenpranger! Die Ratingagentur Standard & Poor's stufte daraufhin die Zurechnungsfähigkeit des Schwaben auf Ramschniveau herunter. Standard & Poor's, was für ein lächerlicher Name! Und solche Ratingagenturen engagieren die Länder? Ja, ja, es sind Spezialisten. Ihr Portfolio umfasst Kartenlegen, Koksspuren deuten und Märkte manipulieren. Das kann höchstens noch Astro-TV bieten. Lächerliche Namen sind auch Bear Stearns, Merrill Lynch & Co, Paine Webber und Hornblower & Weeks. Nein, das sind keine Briefkastenfirmen von Drückerkolonnen. Merrill lynchen? Onaniewochen ausrufen? Es handelt sich um (nicht mehr existierende) Investmentbanken, die Wir-geben-Spielsüchtigen-ein-Zuhause-Banken. Die Merkelsche schwäbische Hausfrau würde solchen Firmen nicht einmal eine Rückenbürste abkaufen. Nun gut, die Finanzmärkte haben mit der realen Welt so viel zu tun wie zu Guttenberg mit dem Schreiben seiner Dissertation. Und nun Vorhang auf für die Börsen-Telenovela: Börsenpanik, Flucht in US-Staatsanleihen, Kreditwürdigkeit der USA wird herabgesetzt, US-Staatsanleihezinsen steigen. Wie praktisch. Telenovelas enden immer mit einem Happy End für die Hauptdarsteller. Trotz Haircut sind die Haare länger und nicht kürzer? Kann hier jemand Stroh zu Gold spinnen? Realität und Fiktion verschwinden immer mehr im Jahr, in dem einige Blender aufgeflogen sind. Jorgo Chatzimarkakis als Berater der griechischen Regierung? Oder war es doch Peter Zwegat? Zu Guttenberg als EU-Berater für Freiheit im Internet? Oder war es doch Kim Jong-il? Waren es 50 Milliarden mehr oder weniger? Wenn die Pro-Guttenberg-Demo von Satirikern angemeldet wird, wenn die Medien das nicht merken und die Satiriker interviewen, wenn die wenigen echten Pro-Guttenberg-Demonstranten so klischeehaft auftreten, dass es nicht einmal einer der ideenlosen Autoren von „Two and a Half Man“ schreiben würde, dann wird Realität zu Real-Satire und Fiktion zu Wirklichkeit. Da wundert es kaum, dass die Baden-Württemberger „ja“ wählen müssen, wenn sie „nein“ zu Stuttgart 21 sagen wollen. Da wundert es kaum, wenn zu Guttenbergs Augen wundersam heilen, wenn der Verfassungsschutz den Zwickauer Terroristen gefälschte Pässe finanziert oder wenn im Atommülllager Asse verstrahlte Organe und Teile einer Nazi-Atombombe gefunden werden. Selbst bei den Amigos der Atomlobby in der Regierung ist nach dem real gewordenen Restrisiko die Erkenntnis angekommen, dass Anti-Atomkraft-Demos nicht putzig sind. Verglichen mit den Geschehnissen im Jahr 2011 ist eine Wagner-Oper Reality-TV. Oder um es mit den bodenständigen Worten der Bundeskanzlerin auszudrücken: „Es ist schön, Würstchen zu essen, wenn man gerade den neuen Tannhäuser in der Version von Lady Gaga gesehen hat.“ Prosit Neujahr!

Autor: Alexander Mayer

Letzte Änderung: 17.01.2012