Notizen über die allgemeine Verunsicherung

2010 war jetzt vorbei

Endlich eine Single! Seit dem Jahr 2004 warten wir darauf, nun ist sie da: Die erste Single der Super Nanny, ihres Zeichens Darstellerin in der gleichnamigen Pädagogik-Fantasy-Show! Pädagogisch und kulinarisch wertvoll war auch die Vorab-Single „Neue Helden braucht das Land“, welche nicht nur beachtliche Charts-Erfolge feierte, sondern auch noch Ohrwurm-Qualitäten hat, wie die Reaktionen bei Liveauftritten zeigen. Es folgte das gleichnamige großartige und Thomas-Bernhard-würdige Album. Einem Eyjafjallajökull gleich brach es aus Thomas Spitzer heraus, so als würde er die EAV implodieren lassen und die Asche über Mitteleuropa verstreuen wollen, nicht ohne den kerosinsubventionierten Billigflugverkehr für ein paar Wochen auszubremsen, um nicht zu sagen auszuschubumkehren. So klang zumindest sein denkwürdiges Interview mit dem österreichischen Magazin „Format“ erst nach Ausstieg aus der EAV, gemeint war jedoch eine kreative Pause bei den Sommerkonzerten. Statt des Stromgitarrenschrammelkaisers hilfsrockte Reinhard „Pirat oder Rocker, das ist die Frage“ Stranzinger unaufgeregt und professionell. Kein Rücktritt also. Die deutsche Kanzlerin ließ trotzdem vorsichtshalber verkünden, sie würde den Rücktritt auf's allerhärteste bedauern, Joachim Gauck sprach, er und die ganze Nation hätte sich die ihm angetragene Aufgabe als Nachfolgetexter zugetraut. Und Heiner Geißler bot sich flugs als Schlichter an. Geißler als Schlichter — was kommt als nächstes? Roland Koch als Sozialarbeiter? Krake Paul als Wirtschaftsweise? Das Ländle wird es schon wissen, Geisler lieferte schließlich eine für alle Seiten befriedigende Lösung: Statt des als zu teuer kritisierten Stuttgart 21 soll ein um mehr als hundert Millionen noch teureres Stuttgart 21+ kommen. Was sind denn schon Millionen? Herr Seehofer weiß es: Zahlen, riesengroße Zahlen! Dabei stellt die entscheidende Frage keiner: Warum zum Teufele wollen die Stuttgarter eigentlich schneller nach Ulm? Wie man klinisch sauber und ohne Ärger ein Großprojekt umsetzt, kann man vom lupenreinen Demokraten Putin lernen. Nur die eifersüchtige westliche Welt reagierte auf die Fussball-WM-Entscheidungen für Russland und Katar verschnupft, Schlaufüchse kauften jedoch Klimaanlagen-Hersteller-Aktien. Vorbildhaft, wie Russland dafür sorgt, dass die vierte Gewalt nicht mehr ohne Kontrolle ist. Gewaltenteilung moderner Prägung! Weißrussland, Italien, Ungarn — es geht voran! Der tapfere Medienkritiker Silvio Berlusconi hat nur noch vor einem Angst: Bono von U2. Achtung, Baby, Deutschland ist noch hinterher, Bestechung heißt hier noch Entwicklungshilfe. Dass ein Regierungssprecher zum Intendanten und ein bekannter TV-Journalist zum Regierungssprecher wird, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Und jetzt das Wetter. Was für ein Theater. Einem Papiertheater nachempfunden war die erste Version des Musikvideos zur Single „Neue Helden braucht das Land“, diese Version gefiel Thomas Spitzer jedoch nicht, weshalb sie im Giftschrank der EAV verblieb. Das endgültige Musikvideo wurde erst Monate später fertig und geriet weniger kreativ. Der Weg ist das Ziel, das sagten sich auch die Castor-Demonstranten, welche aus Protest gegen den gefährlichen Transport von Castor-Behältern den Transport von Castor-Behältern gefährdeten, bevor sie in Wellblechhütten über einem Salzstock gelagert werden. Die Castor-Behälter, nicht die Demonstranten. Alles dreht sich nur noch um die Grünen, holt sie runter von der hohen Palme der Moral! Wedelt sie mal runter von der Palme! Das ist doch nur die Dagegen-Partei, die CDU/CSU und die FDP sind die Dagegen-Dagegen-Parteien, ja sogar die Dafür-Parteien. Für Steuerbegünstigungen für Hoteliers, für Atomkraft, für Gesetze aus der Hand der Lobbyisten, für ein teureres Gesundheitswesen, für Sparen bei Hartz-IV-Empfängern! Ach, er hat es nicht leicht, der Guido Westerwelle. Da spricht er von einem Versprechen des anstrengungslosen Wohlstands, das keiner macht, vergleicht diesen mit der spätrömischen Dekadenz, die sich vor allem durch gierige Politiker auszeichnete, macht Klientelpolitik für Wähler, die es nicht mehr gibt, und muss sich auch noch von Heiner Geißler mit dem Esel von Caligula vergleichen lassen, der eigentlich ein Pferd war. Der in diesem Jahr verstorbene Christoph Schlingensief meinte gar: „Das Wichtigste ist, dass man einfach diese FDP wegjagt.“ Und wenn der Altkanzler nichts über ihn sagt, dann passt es Guido auch nicht. Und die Parteifreunde? Als Michael Lerchenberg Westerwelle auf dem Nockherberg alle Hartz IV-Empfänger auf den leeren verblühten Landschaften einsammeln ließ („drumrum einen Stacheldraht, ham wir schon mal g'habt“), hat das die Haderthauer ein „niveauloses Gepolter“ genannt, als die Aufregung in den Medien groß war. Dabei hatte sie sich doch bei der Rede selbst noch so köstlich amüsiert. Armer Guido, was machst Du falsch und was macht zu Guttenberg anders? Er übernimmt keine Verantwortung, wenn seine Mitarbeiter etwas falsch machen, was ihm als Führungsstärke ausgelegt wird. Er spricht Klartext, wenn er sagt, dass die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands auch militärisch verteidigt werden müssen. Die gleiche Aussage hatte Ex-Bundespräsident Köhler massive Kritik in den Medien eingebracht, welche ihm letztlich zum Rücktritt bewegte. Er hatte es halt nicht in so schönen Schachtelsätzen formuliert. Schachtelsätze und Schmalzlocke, das sind die Zutaten des modernen Politikers. Die Wirtschaftswunderzeit kommt wieder zurück. Und seit der ersten deutschen Embedded Talkshow in Afganisthan weiß man wenigstens, für was zu Guttenberg die nach der dringend notwendigen Bundeswehrreform verbliebenen 180.000 Soldaten noch braucht: als Kulisse für seine öffentlichen Auftritte. Im Kriegsgebiet? Krieg ist nichts anderes als ein zynisches, realistisches Videospiel, wie das von Wikileaks veröffentlichte Video aus dem Irakkrieg zeigt. Ein Video, das die Welt verändern müsste. Banale Notizen der amerkanischen Botschafter über deutsche Politiker sorgten jedoch für viel größeren Wirbel, dabei brachten sie nur eine Erkenntnis: Die Diplomaten lesen deutsche Medien und schreiben wie pubertierende Schüler in ihr Tagebuch. Und deshalb ist Julian Assange unter Beschuss? Oder wegen seiner Rap-Künste? Und wo ist eigentlich die Krise? Die hat die EAV wie ein reinigendes Gewitter mit ihrer vollkommen neu konzipierten „Neue Helden“-Tour weggespült. Die allgemeine Verunsicherung als Vater des Aufschwungs. Der DVD-Mitschnitt und die Live-CD, die von der Tour gemacht wurden und käuflich zu erwerben sind, sind somit bereits jetzt historische Zeitdokumente der weltweiten Krise. Kein Wunder, dass die EAV ankündigte, im Jahr 2011 etwas kürzer zu treten. Vorher lieferte sie noch den deftigen Titelsong des zweiten Mundl-Films. Die Deppat'n und die Gspritzt'n, die Rumwurschtler, Stagnierer und Blockierer dieser Welt ziehen ihren Kopf aus dem Sand heraus und reiben sich verwundert die Augen. Und klatschen Lena Meyer-Landrut Beifall für ihren Erfolg beim Eurovision Song Contest. Das Volk erwählte ein Nerd-Mädel mit gutem Musikgeschmack und Bühnentalent, das gibt Hoffnung für den Aufschwung. Nur ganz hinten aus der GIPSI-Ecke hört man eine leise fragende Stimme nach dem Aufschwung suchen. Doch das Lachen der Banken, die diese Staaten durch Abzug ihres Geldes in den Ruin trieben und nun an den Hilfskrediten ohne Risiko dank staatlichem Schutzschirm mitverdienen, ist lauter. Und während sich der Wutbürger einen Dekubitus auf der stillen Treppe der Staatsgewalt holt, diskutiert man auf der Arschgesichterkonferenz Werbekampangen gegen Politikverdrossenheit. Andere meinen, das Wetter sei schuld. Der Klimawandel wird's schon richten. Prosit, Neujahr!

Autor: Alexander Mayer

Letzte Änderung: 31.12.2010